Anfängergeist für Ihre Thesis

Wie Sie Ihren Anfängergeist für Ihre Arbeit erwecken

Bild: Canva.com

Vor ein paar Jahren habe ich ein Projekt in Angriff genommen, das mich wirklich weit aus meiner Komfortzone herauskommen ließ. Ich begann ein Zertifikatsprogramm für die Produktion und Bearbeitung von Videos – und das auch noch auf Schwyzerdütsch, was nicht meine Muttersprache ist. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag. Ich war nervös, ob ich im Kurs mithalten könnte und hatte Angst davor, dass mich die anderen Teilnehmer nicht mögen könnten.

Gleichzeitig war ich völlig euphorisch, am Kurs teilzunehmen und neugierig auf all die neuen Konzepte und Techniken, die ich schon bald erlernen würde. Schon in der ersten Unterrichtsstunde saugte ich alle Inhalte regelrecht auf, war derart hochkonzentriert und motiviert, wie ich es in meinem Alltag nur selten erlebe. Da der Kurs viele praktische Übungen vorsah, konnte ich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern, kreative Ideen direkt mit unserem neuen technischen Knowhow in die Praxis umsetzen. Wurden unsere Videos nichts, mussten wir uns nicht dafür schämen, sondern schätzten dennoch die Erfahrung als Teil unseres Lernerfolgs.

Meine Wahrnehmung dieser ersten Kurstage ist ein passendes Beispiel für ein Konzept, das in den letzten Jahren zu einem Buzzword in Kreativ- und Business-Blogs wurde: Anfängergeist (engl.: beginner’s mind). Der Begriff entstammt ursprünglich dem Zen-Buddhismus und wurde in der westlichen Welt durch das 1970 erschienene Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist (engl.: Zen Mind, Beginner’s Mind) von Shunryu Suzuki bekannt. Wie man vom Titel erwarten würde, wird in dem Buch beschrieben, wie die Ausbildung des Zen-Geistes mit der Wahrung des shoshin, der Denkweise eines Anfängers, zusammenhängt. Suzuki fasst dies wie folgt zusammen: „Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten; im Geist des Experten gibt es nur wenige“. Er erklärt weiter, dass wenn man eine Meditationsübung mehrere Male wiederholt hat, diese leicht zur Gewohnheit wird. Damit einher geht auch der Stolz auf sich selbst, etwas geschafft zu haben. Gerade dieses Ego und der geänderte Fokus kommen dann der Übung selbst in die Quere und damit dem Ziel, einen höheren Zustand des Zens zu erreichen.

Selbst wenn der Ursprung des Begriffs im spirituellen Bereich liegt, findet er immer mehr Gebrauch in irdischen Dingen, insbesondere im kreativen Umfeld. Die Idee dahinter ist, dass man seine anfängliche Offenheit, Neugierde und Freude beim Entdecken wie ein Kind bewahren sollte, wenn man etwas Neues lernt. Auf diese Weise entwickelt man neue Ideen, auf die man auf seinen gewohnten Wegen nie gestoßen wäre. Vergessen Sie das, was Sie dachten zu wissen, und betrachten Sie das Problem mit anderen Augen.

Dieser Ansatz kann insbesondere hilfreich sein, wenn Sie bereits seit langer Zeit an einem bestimmten Projekt arbeiten, beispielsweise wenn Sie im letzten Jahr Ihrer Dissertation sind. Da Sie zu dem Zeitpunkt Ihr Thema in- und auswendig kennen, rechnen Sie eher nicht mehr mit Überraschungen oder großen, neuen Durchbrüchen. Ihr Gehirn verarbeitet neue Informationen linear, seine Operationen folgen dem konvergenten Denken. Daran gibt es nichts Falsches, aber wenn Sie noch neue Ideen suchen, könnte es helfen, Ihre Denkweise etwas aufzurütteln.  

Indem Sie sich in die Denkweise eines Anfängers versetzen, drängen Sie Ihr Gehirn in den divergenten Denk-Modus. In diesem können Sie kreativer und ideenreicher sein. Wenn Sie unserem Blog schon lange treu sind, könnte Ihnen dieser Ansatz bekannt vorkommen. Wir sind bereits in einem früheren Beitrag zur Oblique-Strategies-Technik darauf eingegangen. Dort finden Sie auch weitere Ansätze, wie Sie sich aus Ihrer Schreibblockade befreien können.

Was der Anfänger-Geist ist, sollte nun in der Theorie klar sein, aber wie genau wenden Sie ihn in der Praxis an? Wir haben hier ein paar Ideen zum Ausprobieren für Sie:

1. Schauen Sie sich eine Idee nochmals an, die Sie bereits verworfen hatten

Als Wissenschaftler wissen wir alle, dass es wichtig ist, Annahmen zu hinterfragen. Stecken wir aber schon seit längerer Zeit tief in einem Projekt, lässt man leicht damit nach. Wenn Sie Ihre Notizen und Ideen nochmals durchgehen, fragen Sie sich, warum Sie bestimmte Ideen verworfen hatten. Oder hatten sie womöglich doch ihre Berechtigung und können neue Aspekte eines Problems einbringen, die Sie sich genauer anschauen sollten? Es kann ebenfalls hilfreich sein, sich mit einer Kollegin oder Ihrer Mentorin zu unterhalten, die eine komplett gegensätzliche Perspektive zu Ihrer Forschungsfrage liefern kann.

Sie können diesem Prinzip allgemein bei Ihrer Arbeit folgen. Wenn beispielsweise der Gedanke an das Schreiben Ihrer wissenschaftlichen Arbeit ein Angstgefühl bei Ihnen erzeugt, fragen Sie sich: „Was wäre, wenn ich so tue, als ob mir das Schreiben leichtfällt? Wie würde es sich anfühlen, und wie würde ich mich anders verhalten?“ Wenn das Schreiben zur lästigen Pflicht geworden ist, denken Sie zumindest daran, dass Sie die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten können und sie sich dadurch etwas einfacher anfühlen.

2. Erlauben Sie sich, neue Wege einzuschlagen

Wenn einem ganz unerwartet neue Ideen kommen, neigt man dazu, sie gleich wieder zu verwerfen, bevor sie überhaupt zu Ende gedacht sind. Sie könnten beispielsweise auf eine neue Methode stoßen, die Sie für Ihre Untersuchen anwenden könnten. Dann lassen Sie aber gleich wieder von der Idee ab, da Ihr Methodendesign bereits feststeht. Oder Sie stoßen auf einen weiteren Gedankengang, der Ihr Themengebiet berührt aber bewerten ihn sofort als randständig und entscheiden, ihn nicht weiter zu verfolgen. Diese Entscheidungen im Bruchteil einer Sekunde sind nicht falsch – wenn Sie an einem großen Projekt arbeiten, müssen Sie Entscheidungen treffen, um voran zu kommen. Es schadet jedoch nicht, solche Gedanken aufzuschreiben und sich später die Zeit dafür zu nehmen, sie in Ruhe zu betrachten. Selbst wenn sie schlussendlich den Rahmen Ihres akuellen Projektes sprengen, könnten sie die Basis für ein kommendes Forschungsprojet bilden.

Wenn Ihnen beim Lesen häufig Ideen kommen, können Sie diese in Citavi festhalten. Ergänzen Sie den Artikel um einen Kommentar mit Ihren Ideen und legen Sie ihn in der Gruppe „Ideen zur Überprüfung“ ab. Sie können sich nun eine regelmäßige Aufgabe vergeben, die Sie daran erinnert, die Ideen genauer anzuschauen. Freitag nachmittags, wenn nicht so viel los ist und Sie Zeit haben für ein Brainstorming, könnte ein guter Zeitpunkt sein.

3. Lassen Sie Ihr Ego außen vor

Wenn Sie Angst davor haben, Ihr Gesicht zu verlieren, falls Ihre Thesis nie als Buch veröffentlicht wird oder besorgt um Ihre Job-Aussichten in Ihrem Bereich sind, werden Ihnen nur schwer neue Ideen kommen. Versuchen Sie, Ihre persönlichen Sorgen beiseite zu legen, während Sie Schreiben oder Seminare geben. Falls manche davon immer hartnäckig auftauchen und Sie stören, schreiben Sie sie auf eine Liste und legen Sie einen Zeitpunkt in der nahen Zukunft fest, an dem Sie sich mit ihnen beschäftigen werden. Das mag komisch klingen, aber genauso wie unerledigte Aufgaben, worüber wir in diesem Blog-Beitrag berichteten, kann diese Strategie Ihr Gehirn davon entlasten, Sie immer wieder an diese eine Sache erinnern zu müssen.

4. Entfachen Sie Ihre Neugier

Wenn Sie schon seit langem an einem Projekt arbeiten, kann es mit der Zeit etwas langweilig werden. Um sich wieder auf Ihr Thema einzulassen, stellen Sie sich selbst Fragen. Versuchen Sie, Ihre emotionale Verbindung zu Ihrer Arbeit wieder herzustellen, indem Sie eine Pause einlegen, um zu überlegen, warum bestimmte Ideen Sie überhaupt interessiert haben. Oder Sie denken an die größeren Auswirkungen dessen, was Sie untersuchen. Versuchen Sie auch, ein theoretisches Konzept mit etwas zu vergleichen, dem Sie im Alltag begegnen.

Das sind noch längst nicht alle Tipps, weshalb ich Sie einladen möchte, Ihren eigenen „Anfängergeist“ zu wecken, um auch in langandauernden Projekten weiterhin offen, neugierig und voller Forschungsdrang zu sein. Mir persönlich hat dieser Ansatz geholfen, nicht nur hinter der Kamera kreativer und ideenreicher zu sein, sondern ich habe ihn in alle Lebensbereiche übertragen. Ich hoffe, Sie können auch davon profitieren!

 

Was halten Sie vom Anfängergeist? Hätten Sie andere Ideen, wie Sie ihn beim wissenschaftlichen Arbeiten wecken könnten? Schreiben Sie uns Ihre Gedanken (auch die ganz verrückten des Anfängergeistes) an blog@citavi.com oder hinterlassen Sie einen Kommentar unter dem Facebook-Posting dieses Blog-Beitrags.

 

Zur Vertiefung

Suzuki, Shunryu (2016): Zen-Geist, Anfänger-Geist. Limitierte Sonderauflage. Bielefeld: Theseus Verlag.

Erstellt von: Jennifer Schultz – Veröffentlicht am: 08.09.2020
Tags: Kreativität Schreiben


Über Jennifer Schultz

Jennifer Schultz ist die einzige Amerikanerin im Citavi-Team, was ihr ihre Kollegen aber (normalerweise) nicht verübeln. Ihre Leidenschaft, Wissenschaftler bei ihrer Arbeit zu unterstützen, brachte ihr einen erfolgreichen Studienabschluss. Sie mag es aber auch, schwierige Sprachen zu lernen, draußen in der Natur zu sein und ihre Nase in ein Buch zu stecken.

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